Experteninterview - Prof. Dr. Stefanie Heiden
Grundlagen und Bedeutung der Biologisierung
Frage 1: Was genau versteht man unter dem Begriff "Biologisierung" im Kontext der Industrie und welche strategischen Vorteile bietet sie Unternehmen? Warum sollte sich ein Unternehmen mit der Biologisierung seiner Produkte/ Prozesse auseinandersetzen?
Prof. Dr. Stefanie Heiden: Unter Biologisierung verstehen wir grundsätzlich die Übertragung und Nutzung biologischer Kenntnisse und Lösungen in technische, wirtschaftliche und/oder soziale Zusammenhänge. Wir entlehnen also Vorbilder aus der Natur und entwickeln sie anhand konkreter Fragestellungen weiter.
Biologisierung, wie wir sie heute verstehen, setzt auf konvergente Technologien und nutzt damit das Querschnittspotenzial, welches sich aus dem Zusammenspiel verschiedener Disziplinen ergibt. So bieten biologische Ansätze nicht nur strategische, sondern durchaus auch ganz konkrete Kosten- und /oder Wettbewerbsvorteile für Unternehmen. Sie bieten nicht nur neue Produkte mit Mehrwert, sondern generieren neue Eigenschaften, welche in der Lage sind, neue Märkte zu erschließen oder gar zu schaffen. So bilden sie häufig die technische Grundlage für Unternehmensgründungen oder Optimierungsansätze für bestehende innerbetriebliche Verfahren.
Unternehmen tun immer gut daran, ihre Unternehmensausrichtung einerseits, Produkte und Produktionsprozesse andererseits zu bewerten: Dies tun sie mit Blick auf den sich verändernden Markt, neue Wettbewerber, neue Bedarfe, aktuelle und langfristige Rohstoffverfügbarkeiten; Fixkosten etc. Gerade vor dem aktuellen Hintergrund globaler Verwerfungen und damit einhergehender Fragestellungen der Energie- und Rohstoffsouveränität, aber auch den immer dringlicheren Herausforderungen des globalen Klimawandels bedarf es weiterer und neuer Anstrengungen auf allen Ebenen, die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und Staaten zu stärken.
So integrieren Unternehmen auch neue Technologien und Lösungsansätze in ihre Entwicklungen und Produktionsprozesse und unterwerfen ihre Prozesse entsprechenden Optimierungsanalysen, die verschiedene Limitationen zutage befördern. Hier kommen Bioionisierungsansätze ins Spiel, da sie dazu beitragen können, Produktionskosten zu senken, strategische und ganz konkrete Wettbewerbsvorteile zu realisieren.
Anwendungsbereiche und Beispiele
Frage 2: In welchen Branchen oder Bereichen sehen Sie die größten Potenziale für die Biologisierung? Können Sie konkrete Beispiele nennen?
Prof. Dr. Stefanie Heiden: Zunächst muss ich vorausschicken, dass ich den Mehrwert der Bioökonomie-Strategie oder des Bioökonomie-Konzepts darin sehe, dass Bioökonomie weit mehr bedeutet als die alleinige Fokussierung auf das Feld der nachwachsenden Rohstoffe; sie geht weit darüber hinaus und umfasst verschiedenste Branchen, Prozesse und Produktklassen. Durch kluge Umsetzung der Bioökonomie-Strategie wird es möglich sein, den globalen Herausforderungen wirksam zu begegnen. Gerade in Verbindung der Querschnitts- und Schlüsseltechnologie Biotechnologie mit neuen Ansätzen von Digitalisierung und KI sehe ich hochinteressante Ansätze für die Realisierung einer breiten Biologisierung:
Im Bereich der Medizin und Medizintechnik sowie im Bereich Pharma bietet sich die Entwicklung evidenzbasierter und agiler Entscheidungshilfesysteme an, um individualisierte Therapien zu ermöglichen: Neuartige Carriersysteme, die zielgerichtet spezifische Zellstrukturen adressieren, und hochpotente Wirkstoffe transportieren, können mittels molekularer Bildgebung in vivo verfolgt und am Ort des Interesses wirksam freigesetzt werden. Neuartige, maßgeschneiderte Wirkstoffe können entwickelt und schneller zur Zulassung gebracht werden.
Implantate, sei es in der Zahnmedizin, sei es bei der Versorgung mittels Hüft- oder Gelenkimplantaten, profitieren maßgeblich von Biologisierungsansätzen: Sie können länger im Körper verbleiben, wenn Materialoberflächen so modifiziert werden, dass Biofilme nicht oder nur sehr verzögert aufwachsen können. Dies kann durch biologische Oberflächenmodifikationen erfolgen, welche bspw. die Anheftung von Bakterien erschweren. Neueste biotechnologische Entwicklungen bieten sogar Lösungen, die quasi bürstenähnlich aufwachsende Biofilme von der Implantatoberfläche mechanisch entfernen.
Damit ist das Feld der sog. Roten (Medizinischen/Pharmakologischen) Biotechnologie eines der wichtigen Felder der Bioökonomie.
Im Bereich der Landwirtschaft sehe ich durchaus weitreichendes Potenzial; die bedarfsgerechte Düngung oder das maßgeschneiderte Ausbringen von Pestiziden oder Pflanzenschutzmitteln in Abhängigkeit von Klimabedingungen, Schädlingsbefall oder Schwellenwerten sind durch sogenanntes precision farming möglich: Hier verbinden sich biologisches Wissen (Bio-Sensorik, Pflanzen-Wissenschaften, Metabolomics, Genetik- und Pflanzenzüchtung) mit physikalischer Messmethodik und KI, sodass nachhaltigere Land- (und Wasser-)wirtschaft ermöglicht wird.
Auch das Verhindern von vorzeitigem Auswaschen von Pflanzenschutzmitteln durch Proteine mit besonderen Hafteigenschaften, die Wirkstoffe länger an der Blattoberfläche von Nutzpflanzen binden, sind moderne Ansätze biologischer Systeme. Damit wird die Menge des eingesetzten Wirkstoffs einerseits, die Grundwasserbelastung andererseits maßgeblich minimiert, die Kosten für den landwirtschaftlichen Betrieb entsprechend gesenkt und der Flächenertrag gesteigert. Externalisierte Umweltkosten werden damit maßgeblich gesenkt. Gewonnene Erkenntnisse können zudem in die nachhaltige Bewirtschaftung von Wasser einbezogen werden.
Einen anderen spannenden Bereich stellt der Bereich innovativer Materialien für Konstruktion und Bau in unterschiedlichen Sektoren dar: Hier soll modellhaft die CO₂-neutrale Carbonfaser genannt sein, die nach der Dauer ihrer technischen Nutzung sortenrein wiedergewonnen und mit unveränderter Faserlänge wiedereingesetzt werden kann. Dies verdankt sie einer biotechnologischen Oberflächenmodifizierung.
Gerade für den Bereich Leichtbau bieten Bioionisierungsansätze weitere spannende Lösungen.
In all den genannten Bereichen kommt das besondere Merkmal der Biologisierung zum Ausdruck, nämlich das der integrierten Kreislaufführung: So haben 3,4 Mrd. Jahre Entwicklungszeit der belebten Natur Lösungen erarbeitet, die quasi abfallfrei, energie- und stoffstromoptimiert funktionieren, und dies auf molekularer wie makroskopischer Ebene.
Damit unterscheiden sich biologische Systeme von linearen Lösungsansätzen, die insbesondere auf Wirkungsgradoptimierung abheben und die Thematik der Kreislaufwirtschaft weniger in den Fokus nehmen.
Herausforderungen in der Umsetzung
Frage 3: Welche Hürden müssen überwunden werden, um die Biologisierung erfolgreich umzusetzen?
Prof. Dr. Stefanie Heiden: Die besonderen Herausforderungen gerade in Deutschland sehe ich in einem „suboptimal“ funktionierenden Kapitalmarkt. So erwachsen zwar neue Gründungen, die eine hochinteressante biobasierte Technologie-Basis besitzen, mangels nötiger Finanzinstrumente jedoch nicht in ein organisches Wachstum überführt werden. Oder sie wachsen in anderen Ländern, insbesondere in den USA oder in Asien und folgen damit den Investoren der notwendigen großen Finanzierungsrunden.
Zum anderen sehe ich den Mangel an Produktionsanlagen und notwendiger Skalierung, die wir in Deutschland bräuchten, um unserer nationalen Bioökonomie-Strategie tatsächlich zur Vitalität zu verhelfen. Deutschland war die erste Nation weltweit mit einer Bioökonomie-Strategie; bei der Umsetzung stellen wir uns wieder einmal hinten an.
Chancen durch Unterstützung
Frage 4: Was können Unternehmen konkret tun? Wo sehen Sie große Chancen?
Prof. Dr. Stefanie Heiden: Tagtäglich begegnen wir den Herausforderungen einer Welt im Wandel, die sicherlich mannigfaltig von biobasierten Lösungen profitieren kann. Dabei sollte man nicht so naiv sein zu glauben, dass durch „Bio“ immer alles besser oder nachhaltiger würde. Auch in biologischen Systemen gelten die Hauptsätze der Thermodynamik. Und jeder unternehmerische Entscheidungsträger wird nur überzeugend vertreten, was sich auch rechnet.
Und so bedarf es einer transparenten Betrachtung und Bewertung möglicher alternativer Lösungsansätze, die über Unternehmensgrenzen hinausgehen und auch externalisierte Umweltkosten in die Gesamtkalkulation mit einbezieht. Unter den aktuellen Vorzeichen globaler Verwerfungen und Diskussionen einer nötigen Rohstoff- und Energiesouveränität werden die Weichen sicher noch einmal anders gestellt werden müssen, da diese Betrachtungen ebenfalls einzupreisen sind.
Grundsätzlich verhelfen sog. Schwachstellen- (besser Potenzial-)Analysen Unternehmen dabei, sich ressourceneffizienter aufzustellen und bestehende Prozesse und Strukturen zu überdenken; hier können biobasierte Lösungen ins Spiel kommen, wenn sie denn überhaupt bekannt sind.
Um solche Innovationen der Bioökonomie bekannter zu machen und sie leichter ins Unternehmen zu integrieren, bieten Initiativen wie das deutschlandweite TransBIB-Netzwerk entsprechende Workshops und unternehmensspezifische Beratungen an. Damit werden auch Bioökonomie-ferne Branchen oder Unternehmen in direkten Kontakt gebracht mit biobasierten Lösungen, die häufig auch unkompliziert und ohne exorbitant hohe Kosten ins Unternehmen integriert werden können. Häufig eröffnen sie aber auch den Blick für neue Märkte, da durch deren Integration neue Produktspezifikationen realisiert werden können, die ganz konkrete Wettbewerbsvorteile bieten.
Kooperationen oder Angebote des TransBIB-Netzwerks bieten hierfür die richtigen Ansprechpersonen. Sie bauen Brücken zu Technologie-Anbietenden, Förderprogrammen oder Finanzierung.
Zukunftsaussichten
Frage 5: Wie sehen Sie die Zukunft der Biologisierung in der Wirtschaft?
Prof. Dr. Stefanie Heiden: Wenn wir die bestehenden Limitationen beseitigen – einige davon habe ich bereits oben genannt – wird die Bioökonomie nichts aufhalten können. Allerdings gebe ich zu bedenken, dass der Weg von Innovation immer die Geschichte der Überwindung von Widerständen ist.
Und schließlich sollten wir immer wieder festhalten, dass Innovation den langen Weg von der Invention bis hin zur Durchdringung am Markt bedeutet. Damit dieser Weg erfolgreich durchlaufen wird, bedarf es einerseits kreativer Technologie-Kenner, andererseits der Transformation durch Entrepreneure und mutiger Finanzmarktakteure, die dieses Potenzial frühzeitig erkennen und unterstützen. Am ITE, dem Institut für Innovations-Forschung, Technologie-Management & Entrepreneurship, treffen sich Technologie-Inhaber, Investoren und Entrepreneure und Entrepreneurinnen! Gern nehmen wir unsere Partner mit auf die Reise.
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Wir bedanken uns ganz herzlich bei Prof. Dr. Stefanie Heiden für das Interview.
Die Fragen stellte die TransBIB-Projektmitarbeiterin Marie Teichmann.